Die „Lese“ – eine legendäre Gröpelinger Einrichtung

Rund 100 Männer und Frauen erinnerten sich gemeinsam an das Lutherhaus der Inneren Mission

 

(veröffentlicht am 28.10.2010 im Bremer Westen, am 04.11.2010, 28.04.2011 und 05.05.2011 im Stadtteilkurier West der Bremer Nachrichten und des Weser-Kuriers und am 27.04.2011 im Bremer Anzeiger und im Weser-Report)

Pastor Schultheis 1960, Bürstel 1952, Kleemann und Heilbronn 1983 Pastor Schultheis 1960, Mit dem LKW nach Bürstel 1952, A. Kleemann und L. Heilbronn 1983

"Bitte nehmen Sie Platz!" Der mürrisch dreinblickende Beamte blickt kaum von den vor ihm liegenden Akten hoch, als die Geladenen, ein etwa 50-jähriger Mann und eine ca 30-jährige Frau, die Amtsstube im bremischen Stadtamt betreten. An der Wand hinter dem Beamten hängt ein Adolf-Hitler-Portrait und der Beamte trägt ein Hakenkreuzabzeichen am Revers. "Nach den mir vorliegenden Papieren geht es um die Betriebsamkeiten im Lutherhaus in Gröpelingen, die von der neuen Obrigkeit mit Argwohn betrachtet werden," beginnt der Beamte das Vorladungsgespräch und schaut erstmals den beiden Geladenen ins Gesicht. Keine Sekunde später schlägt sein mürrisches Verhalten in pure Freundlichkeit um. "Ach, Sie sind's! Guten Tag, Herr Pastor Schultheis! Guten Tag, Fräulein Kleemann! Kennen Sie mich noch? Ich war doch in einer Ihrer Jungengruppen! Es geht also um die Lese! Na, wenn das so ist, dann ist ja alles in Ordnung!" Mit seinen letzten Worten nimmt er ein paar Eintragungen in den Akten vor und verabschiedet den Pastor und seine Jugendleiterin per Handschlag.

So oder ähnlich könnte sich die Vorladung der Verantwortlichen des Lutherhauses beim Bremischen Stadtamt zur Zeit der Nationalsozialisten abgespielt haben. Das Lutherhaus, besser bekannt als Lesestube oder kurz "Lese", geht zurück auf das Jahr 1926. Die Einwohnerzahl Gröpelingens war im Zuge der Entwicklung vom Dorf zur Arbeitervorstadt gewachsen. Nach dem Bau der Häfen und der Werft waren zur ehemaligen bäuerlichen Bevölkerung Arbeitssuchende aus ganz Deutschland und dem östlichen Europa hinzugekommen. Diese Arbeiter waren meistens in kommunistischen und sozialdemokratischen Verbänden organisiert und damit in der Regel atheistisch ausgerichtet. Die immer geringer werdende Besucherzahl in der Gröpelinger Nikolai-Kirche wurde von der vorwiegend konservativ ausgerichteten evangelischen Gemeinde mit Sorge betrachtet. Der junge evangelische Pastor Heinrich Schultheis, der noch keine Anstellung hatte, wurde daraufhin bei der Bremischen Inneren Mission mit einer überzeugenden Idee vorstellig: Man müsse sich um die Arbeiterjugend weniger im religiösen, sondern mehr im sozialen Sinne kümmern, um als Kirche nicht ganz den Einfluss zu verlieren. Die Innere Mission kaufte 1926 den alten Landsitz eines Bremer Kaufmanns an der Gröpelinger Heerstraße 115 und Pastor Schultheis kümmerte sich von nun an mit viel Engagement um seine neue Aufgabe und verzichtete bewusst auf die übliche Karriere als Gemeindeseelsorger. Seine erste sehr erfolgreiche Aktion war ein kleines Pappschild im an der Straße gelegenen Wohnzimmerfenster des Landhauses, auf dem geschrieben stand: „Hier können Kinder lesen.“

Die Gröpelinger "Lese" um 1960 Die Gröpelinger "Lese" um 1960

Das Angebot wurde über Jahrzehnte von der Gröpelinger Bevölkerung wahrgenommen und zu den Lese- und Vorleseabenden kamen bald andere Freizeitbeschäftigungen wie Basteln, Nähen und die sehr beliebten ein- und ganztägigen Ausflüge in das Bremer Umland. Die Einrichtung konnte schon bald als das erste Nachbarschaftshaus des Bremer Westens bezeichnet werden, da eine kaum überschaubare Zahl von Gröpelingern als Kind mit dieser Einrichtung in Verbindung stand. Das Erstaunliche war, dass sie selbst die Nazi-Zeit überstand, weil die damaligen Machthaber sehr wohl erkennen mussten, wie tief die „Lese“ – wie sie nun genannt wurde – in der Bevölkerung verwurzelt war. Allerdings durften die Verantwortlichen ab 1938 keine Jugendfahrten mehr durchführen.
Die Lese wurde während des Krieges zerstört, aber bald mit einem Anbau wieder neu errichtet. Pastor Schultheis, der in seinen letzten Lebensjahren immer mehr erblindete, widmete sich auch in der Nachkriegszeit mit großem Engagement seinem Lebenswerk. Er verstarb im Juli 1961 mit 75 Jahren. 

Seine Einrichtung lebte aber noch Jahrzehnte unter der Leitung seiner ehemaligen Mitarbeiterinen Armgard Kleemann (gest. 1996) und Lieselotte Heilbronn (gest. Nov 2012) und später unter Brigitte Bremer, geb. Triebel, weiter. Das Lutherhaus wurde 2004 aus finanziellen Gründen geschlossen und das Grundstück verkauft. Zwischen Schließung und Verkauf war in den Räumen für kurze Zeit die "Allmende" untergebracht, eine Altmöbelsammelstelle der Inneren Mission für Bedürftige. Heute steht an der Stelle der alten „Lese“ das griechische Restaurant Poseidon.

 

Der Einladung der Geschichtswerkstatt, der Ev. Gemeinde Gröpelingen und Oslebshausen, der Bremer Filmamateure und des Plattdütschen Vereens zu einer Erinnerungsveranstaltung im Gemeindesaal an der Danziger Straße waren am Freitag, dem 29.04.2011, ca 100 Personen gefolgt. Die Versammlung freute sich besonders über die Teilnahme der über 90 Jahre alten ehemaligen Betreuerin Lieselotte "Julchen" Heilbronn. Zu Beginn referierte Pastor Holger Gehrke über die Geschichte der Lese und die Ziele der Inneren Mission. Danach wurden Videoaufnahmen des Amateurfilmers Volkhard Kämena über die letzten Tage der Lese gezeigt, die der Vorsitzende der Geschichtswerkstatt Gröpelingen Günter Reichert mit historischen Fotos zu einem 30-minütigem Dokumentarfilm verarbeitet hatte. Im dritten und letzten Teil des Abends tauschten die ehemaligen Lesekinder bei Sirupbroten und Malzkaffee ("Muckefuck") lebhaft Erinnerungen aus.

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