Artikel im Weserkurier vom 23.3. 2017 :

 

Die Menschen im Stadtteil trauern um Günter Reichert von der Geschichtswerkstatt


Gröpelingens Chronist ist tot


Anne Gerling 23.03.2017


Gröpelingen. Wie sah es einst aus in dem beschaulichen Dorf Gröpelingen?
Wo standen Kirche und Bauernhöfe und was hatte es mit dem rund sieben
Hektar großen Landschaftspark „Landgut Lindenhof“ auf sich, der später dem
wachsenden Arbeiterstadtteil weichen musste?
Günter Reichert wusste all dies und konnte in Vorträgen und bei
Rundgängen Gröpelingens Geschichte innerhalb kürzester Zeit lebendig
werden lassen – und zwar die dunklen Kapitel ebenso wie die erfreulichen.
Nun ist Günter Reichert im Alter von 74 Jahren nach kurzer schwerer
Krankheit gestorben und hinterlässt eine riesige Lücke.
Günter Reichert, hier bei einem seiner historischen Vorträge der
Geschichtswerkstatt, ist verstorben.


Ob es um die alten Kinos und Filmpaläste der Vorkriegszeit ging, um das
Schicksal der Gröpelinger Juden oder die Arbeit auf der Großwerft AG
Weser: Wer es genauer wissen wollte, der klingelte bei Günter Reichert an.
Denn der in Gröpelingen geborene Hobbyhistoriker und Heimatforscher
konnte zur Stadtteilgeschichte, zu Persönlichkeiten und Bauwerken konkrete
Fakten, wissenswerte Details und häufig sogar auch historische Bilder
liefern.


Seine Neugierde ließ ihn dabei immer wieder neue spannende Episoden
ausgraben. Auf diese Weise hat Reichert die von ihm mitgegründete
Geschichtswerkstatt Gröpelingen weit über die Grenzen des Stadtteils hinaus
bekanntgemacht.


Nach dem Abitur 1962 am Gymnasium am Waller Ring – das damals in der
Stadt als „Arbeitergymnasium“ galt – hatte Reichert Lehramt studiert und
wurde Studienrat an einem nordbremischen Schulzentrum, wo er Physik und
Chemie unterrichtete. Daneben engagierte Reichert sich kommunalpolitisch
in der Gemeinde Berne, in die er 1970 umgezogen war – zunächst in der
SPD und ab Anfang der 80er-Jahre dann in der damals von ihm
mitgegründeten Alternativen Liste Berne (1981), die er später im
Wesermarschkreistag vertrat.


Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre – Günter Reichert war mittlerweile
zurück in Gröpelingen – gingen aus der Kulturinitiative Gröpelingen dann
Kultur vor Ort und die Geschichtswerkstatt Gröpelingen hervor. Parallel dazu
setzte sich Günter Reichert während des Neubaus der Hafenrandstraße und
der Umgestaltung der Lindenhofstraße mit der Initiative B.I.S. (Bürger im
Sanierungsgebiet) für die Interessen der Bürger und des Stadtteils ein. Im
Februar 2000 schließlich wandte er sich von den Grünen ab; mit dem
Atomkraft-Kurs der damaligen Bundestagsfraktion konnte er sich nicht mehr
identifizieren.


Fortan konzentrierte sich der begeisterte Heimatforscher auf die
Stadtteilgeschichte; unter dem Titel „Döntjes und Klönschnack“ sammelte er
Anekdoten, veröffentlichte Filme, lud zu Vorträgen ein und betreute die 2008
online gegangene vereinseigene Webseite. Seinem Engagement ist es zu
verdanken, dass im Stadtteil heute zahlreiche Spuren in die Gröpelinger
Vergangenheit zu finden sind. So hatte sich die Geschichtswerkstatt beim
Bau des Lindenhof-Centers 2008 dafür eingesetzt, einen Teil der
historischen Fassade des alten Ausflugslokals „Sielers Ballhaus“ in den
Neubau zu integrieren.


Außerdem sorgte Reichert dafür, dass Grabsteine von aufgelösten Gräbern
alter Gröpelinger Bauernfamilien auf dem Grundstück der Andreaskirche eine
neue Bleibe fanden, organisierte 2010 die Restaurierung des Wandbildes
„Liebe Herta, nie wieder Krieg …“ von Hermann Stuzmann am Bunker
Hamerweg und setzte sich dafür ein, dass dieses und ein Wandbild am
Bunker Admiralstraße in Findorff unter Denkmalschutz gestellt werden.
Reichert konzipierte Gedenktafeln und historische Rundgänge durch
einzelne Quartiere, die er zum Teil auch noch realisieren konnte.


Nach dem überraschenden Tod von Günter Reicherts Ehefrau Hedda
Reichert war die Geschichtswerkstatt vor drei Jahren ins Erdgeschoss des
1905 erbauten Hauses der Familie an der Liegnitzstraße gezogen.

 

Zuletzt hatte sich Günter Reichert dort intensiv mit dem sogenannten Koschnick-
Haus an der Geeststraße 134 befasst. Das Fünf-Familien-Haus hatte
Koschnicks Großvater Heinrich Klusmeyer gehört; Bremens Altbürgermeister
hatte dort seine Kinder- und Jugendzeit verbracht. Bei all seiner Leidenschaft
für das Vergangene hatte sich Reichert durchaus Gedanken über die Zukunft
der Geschichtswerkstatt gemacht. Wie es dort nun weitergehen soll, ist noch
nicht klar.